Psychoanalytische Überlegungen zu einer uralten Debatte
Als transhistorisches Phänomen stellt uns der Antisemitismus ständig vor neue Fragen moralischer und epistemischer Natur. Der Hass auf Juden unterlag vielen historischen Veränderungen, ist aber im Grunde der gleichen unbewussten Phantasie treu geblieben: das Rätselhafte an den Menschen und an dieser Welt auszurotten. Die Tatsache, dass diese Hassform wieder in unserem Leben präsent ist, bedeutet nicht nur eine nicht zu unterschätzende Gefahr für jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger. Sie zeigt auch an, dass der Mensch immer noch imstande ist, seine eigene Humanität in Frage zu stellen.
Die Wahl der Psychoanalyse als Beruf hing bei mir zweifellos mit dem persönlichen Verlangen zusammen, jenem katastrophalen Abschnitt der Geschichte des 20. Jahrhunderts Sinn zu geben, der zur Entwurzelung meiner Familie in Deutschland geführt und sie gezwungen hat, anderswo Fuß zu fassen.
Also, ich bin kein Berliner, muss aber dieser Stadt, in der meine Mutter geboren ist und die sie 1939 gezwungen war, mit ihrer Familie zu verlassen, einen bestimmten Platz in meinem biographischen und psychoanalytischen Palimpsest einräumen.
Ein Ausdruck dieses Nachspürens war ein stetig wachsendes Interesse an den Wechselwirkungen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen sowie zwischen der wissenschaftlichen Idee und den gesellschaftspolitischen Wandlungsprozessen, ein Thema, das im Mittelpunkt meiner früheren Studien zur Emigration der Psychoanalyse aus Mitteleuropa stand.
Dieses Forschungsprojekt befasste sich mit drei sich überschneidenden intellektuellen Strömungen: dem Sozialismus, der Psychoanalyse und dem Zionismus. Der interdisziplinäre Ansatz zur Untersuchung des Einflusses der Psychoanalyse auf die Denkmodelle der jüdischen Nationalbewegung erwies sich als aufschlussreich, unter anderem deshalb, weil die Epoche, auf die sich diese Forschung konzentrierte, das „goldene Zeitalter“ der Interdisziplinarität war. Damals zeigten die Geistes- und Sozialwissenschaften Interesse an der Verwertung psychoanalytischer Erkenntnisse, und einige Pioniere der psychoanalytischen Sozialpsychologie wirkten vor ihrer Emigration in diesem Sinne am Institut für Sozialforschung in Frankfurt oder in bestimmten Fällen auch im Rahmen der zionistischen Bewegung.
Zwei Tage nach dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hielt der amerikanische Präsident eine Rede, und mir gingen dabei folgende Gedanken durch den Kopf: Heutzutage muss ein Politiker wohl erst ein hohes Alter erreicht haben, um radikal zu sein. Hier spricht ein Mann des 20. Jahrhunderts, der es instinktiv versteht, zwischen dem legitimen politischen Kampf des palästinensischen Volkes und dem genozidalen Angriff auf die Menschheit, welcher an jenem Samstag verübt worden war, zu unterscheiden. In den darauffolgenden Wochen bestätigte sich diese Beobachtung. Noch bevor das israelische Militär in Gaza zu operieren und mit aller Härte zurückzuschlagen begann, konnte man Folgendes wahrnehmen: Je grösser die Niederlage, die Israel am 7. Oktober erlitt, desto krasser wurden die antisemitischen Parolen im Ausland.
Ein marxistischer Professor am Birkbeck College der University of London erklärte, dass die Ermordung von Israelis bei einem Rave eine „Konsequenz“ dessen sei, „Partys auf gestohlenem Land“ zu feiern. Andere Akademiker und eine Vielzahl von Studentenorganisationen gaben Stellungnahmen ab, in denen sie sich ausdrücklich weigerten, den genozidalen Charakter der Gewalt anzuerkennen, der 1400 israelische Zivilisten und 200 Entführte zum Opfer fielen.
Die inflationäre Verwendung des Wortes „Kontext“ ist rasch zu einer rhetorischen Strategie geworden, die es einflussreichen Intellektuellen und Politikern ermöglichte, die Tötung von Zivilisten und Unschuldigen nicht anzuprangern und zu verurteilen. Eine psychohistorische Hemmschwelle, die zu missachten seit dem Vernichtungsantisemitismus des Holocaust unvorstellbar war, scheint seit dem 7. Oktober „durchbrochen“ zu sein. Dies lässt die Verschmelzung von allerlei politischen und kulturhistorischen Bildern zu, die die Juden zum legitimen Hassobjekt im öffentlichen Diskurs des Westens machen. „Das Privileg einer negativen Erwählung“, schrieb neulich der Historiker Dan Diner in der FAZ, „macht die Juden aufs Neue zum Hassobjekt der Völker.“
Aus psychologischer Sicht dürfen zwei Elemente nicht außer Acht gelassen werden:
1. Ausschlaggebend für die Wiederkehr der Juden als Hassobjekte mag diesmal die Schuld an der Ermordung von Juden in ihrem Heimatland sein. Möglicherweise fungiert der Hamas-Angriff als Überschreitung eines, aufgrund des Holocaust, tabuisierten Verbrechens. Die Umkehrung des Genozid-Begriffs und die Verschiebung des Opferstatus von Juden auf Palästinenser infolge des 7. Oktobers und des daraus resultierenden Gaza-Kriegs sind nicht nur der brutalen Kriegsführung Israels geschuldet, sondern auch dem südafrikanischen politischen Unterbewusstsein, welches den Krieg in Gaza als Anlass nimmt, die Shoa und die Juden von ihrer Ikonisierung als Opfer genozidaler Kriegsverbrechen zu entkoppeln.
Der messianische, verrückte Teil Israels, der sich auf schleichende Weise seit dem Sechstagekrieg immer weiter ausbreitet, hätte sich keinen besseren Konkurrenten für seine Wahnvorstellungen wünschen können, als ihm der Internationale Gerichtshof zu bieten scheint.
2. Als weiterer Faktor bei der Wiederkehr des Antisemitismus in den öffentlichen Diskurs soll auf die Wechselwirkung zwischen Islamophobie und Judenhass hingewiesen werden. Seit dem 11. September 2001 etwa ist der Tod nicht mehr ein „Meister aus Deutschland“, wie es im 20. Jahrhundert galt. Er trägt nun oft die Merkmale des fundamentalistischen Islam. Der Israel-Palästina-Konflikt fungiert in der westlichen Vorstellung als Schaltstelle für die Verwischung der Grenzlinien zwischen Israel-Kritik und Judenhass. Aber auch das offizielle Israel treibt seit den 1960er Jahren diese Konfusion zwischen legitimer politischer Kritik und historischem Judenhass in der Öffentlichkeit voran. Sie ist keine Erfindung der israelischen Rechten. Bereits 1969 hat der israelische Außenminister Abba Eban in einem Interview im Spiegel gesagt: „Die Landkarte vom 4. Juni 1967 ist für uns gleichbedeutend mit Unsicherheit und Gefahr. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass sie für uns etwas von einer Auschwitz-Erinnerung hat.“
Interessanterweise gingen aus der Kritischen Theorie, der Psychoanalyse und der Postkolonialen Theorie intellektuelle und theoretische Ansätze hervor, die unter anderem solchen relativierenden Tendenzen und Konfusionen in der Politik Vorschub leisten, haben doch sowohl das Denken der Linken als auch die Psychoanalyse ein entscheidendes Element in die Welt gebracht: die Fähigkeit, kritisch über Machtverhältnisse und die zwischen ihnen sich entfaltende Dynamik nachzudenken, sowie das Verständnis, dass unter der Oberfläche des Schweigens oftmals ausbeuterische Strukturen herrschen – verborgene Machtverhältnisse also im Gegensatz zu offener Ausbeutung und unverhülltem Machtmissbrauch.
Diese Denkweise hat in vielen Bereichen wichtige intellektuelle Früchte getragen, sei es ethisch, politisch, wissenschaftlich oder psychologisch. Dank der Arbeiten von Freud, Ferenczi, Klein, Fromm und ihren Anhängern wurden Psychotherapeuten und Sozialwissenschaftler auf Phänomene wie „Identifikation mit dem Angreifer“ oder „Wiederholungszwang“ aufmerksam. Dieses sozialpsychologisch-kritische Element birgt wegen seines immanenten Anspruchs, alles im Kontext von Machtverhältnissen (der sachlich wahr, aber dennoch kontra-historisch sein kann) zu interpretieren, ohne dass es zusätzlicher Hypothesen bedarf, die Gefahr eines blinden Radikalismus in sich.
Es gibt eine Leugnung der Faktizität von Ereignissen und Situationen als solchen, ihrer ureigensten Beschaffenheit. So werden politische Gewalttaten – zum Beispiel die Anschläge auf das World Trade Center, die russische Invasion in der Ukraine oder die Ermordung von 1400 Israelis durch Hamas-Milizen – lediglich als Teil eines größeren Gefüges betrachtet und diskutiert, als ob sie selbst nichts aussagen oder bedeuten würden, als handele es sich bei ihnen um die Fortsetzung einer anderen Gräueltat, die bisher entweder nicht anerkannt oder nicht genügend wahrgenommen wurde.
Wenn ein Patient sagt: „Ich habe meine Kinder geschlagen, weil mein betrunkener Vater mich und meine Schwester ständig geschlagen hat“ – ist das dann eine Erkenntnis? Oder umgeht er damit eine wahre Einsicht, die die Verantwortung für seine Aggression mit sich brächte? Der Patient verfügt offensichtlich über ein gewisses psychologisches Verständnis seiner Unfähigkeit, seine Wut zu kontrollieren. Doch er hat es in eine Ausrede verwandelt, er hat die trauma-zentrischen psychologischen Erklärungsmuster in einen Legitimationsanspruch pervertiert.
In der Politik entspricht dem die Reduktion jeder Situation auf das System der Machtverhältnisse. Im Namen des moralischen und politischen Versuchs, auf breiter Front (sogar historische) Gerechtigkeit walten zu lassen, leugnet sie die phänomenale Faktizität schrecklicher Geschehnisse. Dieser Ansatz ist nicht nur antitherapeutisch, sondern hat oft geopolitische und strategische Blindheit zur Folge.
Wenn jede menschliche Interaktion auf Machtverhältnisse und Kontrollkämpfe reduziert wird, fällt es nicht schwer, einen mörderischen Terroranschlag als heroischen oder Empathie heischenden Akt der Befreiung oder De-Kolonisation zu betrachten, als legitimes Mittel im Kampf der Schwachen gegen die Starken.
Dies ist eine antihumanistische Denkweise, manche würden sie als posthumanistisch bezeichnen. Im Kern beinhaltet sie, dass der Mensch eine Fiktion ist und dass die humanistischen Werte, die das westliche Denken und die moderne Kultur insgesamt geprägt haben, auf Lügen und Täuschung basieren.
Der bloße Akt, über die Wahrheit zu sprechen, wird dann nicht nur als antiintellektueller Akt, sondern auch als eindeutig unmoralisch angesehen, da die Wahrheit und die sie konstituierenden Wissensmechanismen nach dieser Logik nichts anderes als Werkzeuge der Kontrolle und Unterdrückung sind, die von Menschen eingesetzt werden, von den Mächtigen gegen die Schwachen. Deshalb müssen beide, die Wahrheit und die Wissensmechanismen, bekämpft und abgeschafft werden. Der Angriff auf das Erbe der Aufklärung und die universellen Werte der Vernunft wird als große Befreiung vom reichen weißen Patriarchat und als Entlarvung der Geschlechter-, Klassen- und Rasseninteressen dargestellt, die die Kultur prägen und ein falsches Denken diktieren – ein bedrückendes Bild der Realität. Und so widmen sich die Wissensbereiche, die zuvor den menschlichen Geist studierten, nun seiner Auflösung. Der grundlegende menschliche Durst nach Selbsterkenntnis wird so durch ein neues kategorisches Gebot ersetzt: Dekonstruktion oder lieber gleich Annullierung. Im Namen der Umweltreparation werden Denkmale und Renaissance Gemälde beschmiert, und das Existenzrecht Israel von Klimaaktivisten in Frage gestellt. An die Stelle der Bedeutung tritt die Identität, an die Stelle des Werturteils das ethische Urteil über seine politische Korrektheit.
Moralischer Sensibilität hingegen liegt die Fähigkeit zugrunde, außerhalb der abgeschotteten Blase des ideologischen Resonanzbodens wahrzunehmen und dem reinen Übel, sei es politischer oder psychologischer Natur, nackt entgegenzutreten, ohne es entweder aufgrund seiner Rolle in einem System von Machtverhältnissen oder aufgrund in der Vergangenheit erlittener Traumata zu relativieren, welche Opfer zu Tätern werden lassen, eine Sichtweise, die beide auf der gleichen moralischen Ebene verortet.
Wie findet diese intellektuelle Haltung Widerhall im Antisemitismus?
Zugegebenermaßen hat Antisemitismus etwas Unheimliches an sich. Unabhängig von seiner akribischsten historischen Darstellung und trotz seiner tiefen Einschreibung in die Moderne beansprucht der Antisemitismus immer wieder den Platz eines Phantoms oder einer Metapher im Kopf, selbst wenn er einem unter die Nase gerieben wird; als wäre er durch eine hartnäckige Gedächtnisstörung vom Bewusstsein abgeschirmt. Mir kommen die Worte von Sigmund Freud in den Sinn, als er zum ersten Mal vor der Akropolis stand: „Das alles existiert also wirklich, so wie wir es in der Schule gelernt haben!“ (Freud, 1936) Antisemitismus entgeht leicht dem Bewusstsein und nimmt eine traumähnliche Qualität an. Seine Realität wird oft von Zweifeln begleitet oder kurzzeitig, am besten im Nachhinein, als Relikt aus der Vergangenheit erkannt, ja als etwas, das man „in der Schule gelernt“ hat.
Antisemitismus wird mit Spannungen und Feindseligkeiten zwischen Juden und Christen in der Frühzeit, mit blutigen Anschlägen gegen jüdische Gemeinden im Mittelalter und der frühen Neuzeit und mit dem Massenmord an Juden durch die Nazis und ihre Helfer in Verbindung gebracht. Darüber hinaus wird der Begriff verwendet, um Fälle sozialer Ausgrenzung, den Gebrauch von Stereotypen oder Feindseligkeit gegen Juden durch Nachbarn oder Mitarbeiter zu beschreiben, und seit einigen Jahrzenten auch im Rahmen postkolonialer Debatten. Immer häufiger findet man Antisemitismus im Zusammenhang mit der sogenannten „Cancel Culture“ und vor allem in hitzigen Debatten über die Politik des Staates Israel oder gar über seine Existenz selbst.
Kann ein Konzept, das so viele verschiedene raumzeitliche Erscheinungsmuster aufweist, wirklich all diese Phänomene genau beschreiben? Oder besteht nicht die Gefahr, dass Antisemitismus zu einem logischen und intellektuellen „Staubsauger“ wird, der jede Form von moralischem und politischem Diskurs in sich hineinschluckt, sobald er angeschaltet wird?
In seinen in den 1950er und 1960er Jahren veröffentlichten Aufsätzen behauptete der Historiker Jacob Talmon, dass die jüdische Geschichte zugleich eine universelle und eine einzigartige Bedeutung habe und dass die Juden an verschiedenen Punkten der Geschichte so etwas wie ein Prüfstein seien. „Die marginalisierte Situation der Juden“, schrieb Talmon, „macht sie zu einem exponierten Nerv von außergewöhnlicher Sensibilität, ermöglicht es ihnen, als Pioniere zu agieren, macht sie aber auch zu den ersten Opfern eines Sturms oder einer Katastrophe.“ Seiner Meinung nach ist es die Tatsache, „dass die Juden anders sind und dass die anderen nicht bereit sind, ihre Existenz und ihre Rechte als Selbstverständlichkeit zu akzeptieren“, welche die Angriffe auf sie und eine „böse Reaktion“ provoziert.
Seit dem Erscheinen der Psychoanalyse in den Geistes- und Sozialwissenschaften versuchen Psychoanalytiker und Sozialwissenschaftler, dieser bösen Reaktion des Antisemiten und seinen unbewussten psychischen Mechanismen auf die Spur zu kommen.
Das Wissen, dass Antisemitismus etwas mit Projektion zu tun hat, gehört inzwischen fast zum Alltagsbewusstsein. Was aber beim Antisemitismus projiziert wird, sind, meiner Meinung nach, nicht nur unbewusste und verdrängte Triebregungen und Ängste, sondern auch die Fähigkeit zu denken und zu fühlen. Durch projektive Identifikation wird nicht nur das Unerträgliche am Ich abgespalten, es wird auch ein „state of mind“ gesucht, der es erlaubt, das Denken und die Schmerzen, die mit der psychischen Realität einhergehen, zu evakuieren. So verwandelt sich eine Feindschaft in eine konsistente Weltanschauung.
Für den Antisemiten verkörpert der Jude die Gefahr des Denkens und der inneren Realität als unbestreitbare Bestandteile des Lebens. Es sei dringend zu fordern, schrieb Adorno 1959, eine genaue und unverwässerte Kenntnis der Freud’schen Theorie zu erlangen, damit die Grundlage erkundet werden könne, die den Fremdenhass nähre, nämlich denselben Hass, der sich auch gegen die Psychoanalyse richte. „Der Hass gegen sie ist unmittelbar eins mit dem Antisemitismus, keineswegs bloß, weil Freud Jude war, sondern weil Psychoanalyse genau in jener kritischen Selbstbesinnung besteht, welche die Antisemiten in Weißglut versetzt.“
Worin besteht eigentlich diese „kritische Selbstbesinnung“, wie Adorno sie bezeichnete, welche den Antisemiten in Weißglut versetzt?
Die Psychoanalyse befasst sich mit jenen Aspekten des menschlichen Leidens und Unbehagens, die unseren Narzissmus am meisten kränken. Es sind diejenigen Leiden, Begierden, Phantasien und Ängste, die durch die Entdeckung des dynamischen Unbewussten eine grundsätzlich neue Erklärung gefunden haben. Wenn es den Juden nicht mehr gäbe, besagt die unbewusste Phantasie, dann gäbe es keine innere Realität, keine psychische Wahrheit und manch andere Lebenstatsachen wie die Abhängigkeit vom Guten Objekt, die Separation, die kindliche Sexualität, die Schuld oder sogar den Tod.
„Der Antisemitismus“, sagte Marcel Proust, „trägt eine verrückt gewordene Wahrheit in sich.“ Die Ironie in dieser Aussage besteht darin, dass antisemitische Anfälle sehr oft tatsächlich mit epistemischen Krisen und Panik über Unwissen aufbrechen. „Der Jude“, schrieb Otto Fenichel in seinem berühmten Aufsatz über den Antisemitismus, „wird für den Antisemiten unbewusst zugleich zu dem, gegen den er sich auflehnen möchte, und zu den rebellischen Tendenzen in ihm selbst.“ „Ich gehe ungern ins jüdische Museum“, hat mir vor Jahren ein Berliner Kollege gesagt, „es ist mir zu aufdringlich.“ Er verstand nicht, warum ich ihn lächelnd einen „semiotischen Antisemiten“ nannte.
Der Antisemit leidet an einer vorübergehenden oder dauernden epistemischen Krise. Er versteht die Welt nicht mehr, was eigentlich kein Problem sein sollte, wenn man die Welt als im Wesentlichen schwer zu verstehen akzeptiert und auf infantile wahnhafte Verschwörungstheorien verzichtet.
„Ich vermisse meine Psychose“, sagte mir vor kurzem ein junger Patient, der vor einigen Jahren wegen eines akuten manisch-psychotischen Anfalls stationär behandelt wurde. „Es war traumhaft, ich meine es ernst, nichts in dieser Welt, weder das Studium noch die Liebe, erfüllt mich mit so viel Kraft und Zuversicht, wie es damals die Psychose getan hat. Wenn du verrückt bist, fühlst du dich an dein inneres Kind gebunden, zugleich aber bist unheimlich stark. Kindlich und stark. So eine Kombination verspricht mir nur die Psychose.“
Bietet die Aussage meines Patienten einen Schlüssel zum Verständnis mancher politischen Phänomene und sozialen Gewaltformen, die an Wahn grenzen?
Die Sehnsucht nach dem infantilen Allmachtsgefühl erkennen wir auch in den Träumen und Phantasien des normalen Neurotikers. Ich schlage vor, dass Antisemitismus über seinen unmittelbaren gesellschaftspolitischen Kontext hinaus als archaisches, transhistorisches Vehikel interpoliert werden könnte, durch das sich das Unbewusste dem Subjekt offenbart. Für den Antisemiten glänzt der Jude wie ein bizarres Objekt seiner Phantasie. Das kann auch dazu führen, dass sich der Jude in seinen Augen aus nicht ganz vorhersehbaren Gründen von einem bevorzugten und vertrauten Hassobjekt zum Objekt der Idealisierung transformiert. Meine Mitteilung ist, wenn Sie so wollen, ein Plädoyer für eine Unterscheidung zwischen zeitgenössischen organisierten politischen Formen des Antisemitismus und Antisemitismus als einem vorübergehenden Geisteszustand, einer Sprache, die sich bei Einzelpersonen und Gruppen etabliert und einem direkten, lebhaften, wenn auch pervertierten Ausleben der psychischen Realität und des primären Denkvorgangs dient. Deutlich wurde diese opportunistische und omnipotente Haltung in dem berühmten zynischen Ausspruch des Wiener Oberbürgermeisters Karl Lueger: „Wer Jud ist, das bestimme ich.“
Wir kennen im Wesentlichen zwei Arten der Abwehr von psychischem Schmerz: zum einen die Spaltung des eigenen Selbst, welche die Projektion von Teilen des Selbst und unerträglichem psychischen Material auf eine andere Person ermöglicht, die daraufhin zum Objekt des Hasses oder der Idealisierung wird – sei es im Rassismus, Antisemitismus oder beim Personenkult um einen Anführer –, und zum anderen den Prozess, dass das Selbst sich gegen sich selbst richtet und das innere Objekt sowie das Denk- und Empfindungsvermögen angreift. Beide Mechanismen erkennt man nicht nur in der analytischen Praxis, sondern auch im Politischen, in der Wissenschaft und in der Kultur.
Der Zusammenhang zwischen Psychoanalyse und Demokratie ist eher komplex. Die Psychoanalyse provoziert die direkte Auseinandersetzung mit unbewussten Wünschen und in der menschlichen Seele verwurzelten Phantasien, die undemokratische Begierden fördern, also solche, die faschistische oder autokratische Herrschaftsformen zu verstärken und auszunützen wissen. Beispielsweise die Sehnsucht nach Verschmelzung mit dem Ich-Ideal, die Angst vor dem Anderen, die Angst vor Trauerarbeit, die Bevorzugung gewalttätigen Handelns vor dem Denken oder der unbedingte Verzicht auf Reue und Gewissensbisse.
Um sich in das Rezeptionsmuster eines Subjekts hineinzuversetzen und es zu verstehen, muss man, wie uns die psychoanalytische Praxis lehrt, zum realen Objekt in der Welt dieses Subjekts werden. Während sich der Therapeut mit psychischen Phänomenen auseinandersetzt und selbst zum Übertragungsobjekt wird, beachtet er beide Dimensionen: sowohl die intrapsychische als auch die intersubjektive Dimension der Begegnung mit dem Anderen. Dasselbe gilt auch für die Betrachtung sozialer Phänomene und gegenwärtigen politische Handlungen, denen man nicht wie im Bild vom „Schiffbruch mit Zuschauer“ begegnen soll. Wenn wir unsere emotionalen Reaktionen auf eine bestimmte soziale Handlung näher untersuchen, kann das zum besseren Verständnis der verborgenen kommunikativen Bedeutungen dieser Handlung beitragen. In diesem Zusammenhang sollen der Aufruf von Axel Honneth, die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie in die Sozialforschung zu integrieren, und die tiefenhermeneutische Kulturanalyse von Alfred Lorenzer nicht unerwähnt bleiben. Lorenzer hat das Konzept des „szenischen Verstehens“ in der psychoanalytischen Sozialforschung entwickelt und in der Analyse der Gegenübertragung den großen Nutzen der Psychoanalyse für die anthropologische Forschung erkannt.
Vor vielen Jahren schlug ich einem deutschen Universitätsprofessor vor, gemeinsam eine Arbeit bei einer englischsprachigen medizinischen Fachzeitschrift einzureichen. „Probieren Sie es einfach“, sagte Professor B. mit einem verführerischen Lächeln, „ich weiß, dass meine Arbeiten keine Chance haben, in dieser Zeitschrift veröffentlicht zu werden. Wissen Sie, diese englischsprachigen Zeitschriften sind alle in jüdischer Hand.“ Ich erinnere mich, dass ich eine verblüffende Mischung aus Stolz und Ekel verspürt habe.
Gilt die unangebrachte Selbstauskunft des Professors als „gutes altes“ antisemitisches Vorurteil (getarnt als Schmeichelei gegenüber einem jüdischen Studenten)? Oder war es eine mimetische Geste, ein archetypisches „Rollenspiel“ zwischen zwei „Über-Ichs“ – dem eines deutschen Professors und dem eines jüdisch-israelischen Studenten?
Ich dachte intersubjektiv an meinen Alma-Mater-Vorfall: Ich, eine Art „wandernder Jude“, sollte die verrückten Seiten des Professors eindämmen, ihn aber gleichzeitig von seinem autoritären Über-Ich „freisprechen“, indem ich ihm eine Art pervertierte Nähe mit meinem (jüdischen) Über-Ich anbiete, von dem er sich vielleicht vorgestellt hat, es sei flexibler als sein eigenes. Damit dies geschehen konnte, musste Professor B eine Grenze überschreiten – eine Grenze, die ihn unter Umständen seine Karriere hätte kosten können – und sich auf das Minenfeld namens „Antisemitismus“ begeben. Der Inhalt der „Grenzverletzung“ des Professors war rassistisch und politisch, aber ich vermute, dass eine ähnliche Dynamik eine Studentin zur Zielscheibe einer sexistischen Bemerkung gemacht haben könnte (ich hätte diesen Aufsatz beinahe „die Verführung des Antisemitismus“ genannt).
Bei Patienten, die zuweilen von einem „faschistischen Geisteszustand“ (fascist state of mind) beherrscht sind, wie es Christopher Bollas (1992) nannte, vernichtet der psychische Apparat Teile des Selbst und verinnerlichte Objektteile. Archaische mentale Funktionsweisen, pervertierte oder psychotische Strukturen können die Fähigkeit behindern, Zweifel und Ungewissheit auszuhalten und zu transformieren sowie zu denken und zu fühlen. Dieses Wissen beschränkt sich, wie erwähnt, nicht nur auf die analytische Praxis. Gesellschaften und Gruppen können einen Zustand erreichen, in dem sie ein paranoid-schizoides Verhalten an den Tag legen und eine narzisstisch-charismatische Führung bevorzugen, die die Verleugnung ganzer Teile der inneren und äußeren Realität fördert – bis hin zur Selbstzerstörung. In der totalitären Gesellschaft verzichten die Menschen auf eigenständiges Denken und verschließen „freiwillig“ die Augen vor der Realität. Sie verweigern sich dem Wissen auch dort, wo es ihnen zugänglich ist. In einer demokratischen Gesellschaft ist die Unterscheidung zwischen Vorurteil und Lebenstatsache bedeutsam („facts of life“ , Money-Kyrle, 1971). Lebenstatsachen bestehen nicht nur aus bewiesenem Wissen, das von der Wissenschaft als objektive Wahrheit anerkannt wird, sondern auch aus psychologischem Wissen, das sich weder quantifizieren noch messen lässt und dennoch als Wahrheit gilt, Wissen, das die objektive und subjektive Dimension der menschlichen Erfahrung miteinander verbindet und zu dessen Gewinnung die Psychoanalyse einiges beigesteuert hat. In diesem Geiste betrachten wir als Psychoanalytiker die Bedeutung von Reue, Scham und Schuld und die Fähigkeit zu trauern als Vorbedingung für psychische Entwicklung, Wahrheitsliebe und Reparation.
In unserer Zeit sollten antisemitische Vorurteile und Antisemitismus-Erfahrungen der dritten Generation nach dem Holocaust Signalfunktion für das Gemeinwesen der zivilisierten Gesellschaft erlangen. Sie halten der Gesellschaft einen Spiegel vor und zwingen sie, sich mit der Allgegenwärtigkeit unbewusster Sehnsüchte und regressiver Tendenzen auseinanderzusetzen, einer Tatsache des Lebens, die unsere Kultur immer bereit ist zu leugnen.
Denken Sie noch einmal an Professor B.: Es ist fast so, als mache er sich einem Studenten gegenüber eine alte rassistische Hasskommunikation zunutze, transformiere sie aber vorher in eine bagatellisierbare Unterstellung (in Bezug auf die jüdische Kontrolle über die besseren medizinischen Zeitschriften), um zwei Tatsachen des Lebens anzuerkennen: 1. dass Kinder von ihren Eltern abhängig sind und nicht umgekehrt. Ein Student, egal ob Jude oder Nichtjude, ist in seiner akademischen Laufbahn auf seinen Mentor angewiesen und nicht umgekehrt. Und 2. dass er selbst als Universitätsprofessor nicht allmächtig ist und sich von Zeit zu Zeit unzulänglich und von einem symbolischen Vater abgelehnt fühlt. Vielleicht fühlt er sich gelegentlich sogar einem Studenten unterlegen, aber das hat nichts mit der ethnischen Identität des Studenten zu tun. Anscheinend akzeptierte Professor B. diese Wahrheiten, aber nur mithilfe von Selbsthass, Idealisierung und Verallgemeinerung. Der Rassist richtet aus imaginierter Superiorität heraus seinen Blick „nach unten“. Der Antisemit wiederum schaut aus nicht eingestandener Unterlegenheit „nach oben“.
Die Psychoanalyse hat gegenüber anderen Psychotherapien an Boden verloren, aber die Fähigkeit des Analytikers, Projektionen, Verachtung und Aggression zu ertragen und zu deuten, sowie seine Fähigkeit zu Containment und zum „Denken unter Beschuss“ sind noch immer eine soziale Funktion und eine Voraussetzung für die Durchführung einer sinnvollen und transformativen Analyse, wie sie es zu Beginn der psychoanalytischen Revolution war. Normalerweise denken wir über diese Fähigkeiten in psychologisch-entwicklungsbezogenen Begriffen nach, wir betrachten sie entweder als „mütterliche“ oder „väterliche“ Funktionen. Manchmal betrachte ich die Begegnung mit meinen Patienten mithilfe historischer Tropen. Die Arbeit mit manchen Patienten ist vergleichbar mit der Fähigkeit, Antisemitismus zu widerstehen.
Nur durch die Hinwendung zu seinem Inneren kann der Mensch Werte etablieren und seine Welt neu erschaffen; nur ein Erkennen der Konflikte und Widersprüche der inneren Realität und der unbewussten Phantasie, eine direkte Beobachtung des dunklen, wilden und gefährlichen Abgrunds, der in der Natur und im Wesen seines rätselhaften Lebens in dieser Welt liegt, kann den Menschen dazu inspirieren, sich selbst zu überwinden und Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Es ist unmöglich, den Schatten des Unbewussten zu ignorieren oder ihn im Namen eines Dekrets politischer Korrektheit oder Moral zu „annullieren“, das scheinbar dazu dient, äußere Ungerechtigkeiten zu korrigieren. Ohne innere Reparation gibt es keine äußere Wiedergutmachung, ohne sie wird lediglich eine Kraft durch eine andere ersetzt.
Als transhistorisches Phänomen stellt uns der Antisemitismus ständig vor neue Fragen moralischer und epistemischer Natur. Der Hass auf Juden unterlag vielen historischen Veränderungen, ist aber im Grunde der gleichen unbewussten Phantasie treu geblieben: das Rätselhafte an den Menschen und an dieser Welt auszurotten. Die Tatsache, dass diese Hassform wieder in unserem Leben präsent ist, bedeutet nicht nur eine nicht zu unterschätzende Gefahr für jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger. Sie zeigt auch an, dass der Mensch immer noch imstande ist, seine eigene Humanität in Frage zu stellen.
Wer das Böse und Grausame überstürzt in eine psychologische oder strategisch-politische Perspektive rückt, wer sich beeilt, das Unergründliche loszuwerden, indem er es in relationale und kritische Kontexte stellt, hat seine Menschlichkeit im Wirrwarr von Ideologie und scheinheiligem Psychologismus verloren.